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Artikel vom 1. Oktober 2002, 02:15, Neue Zürcher Zeitung

Von Eva Zeltner, Psychologin FSP, Zürich


Sind Lehrerinnen Knaben nicht gewachsen?

Der Schulverleider aus geschlechtsspezifischer Sicht

Die Klagen der Lehrer über unmotivierte, aggressive, den Unterricht und ihre lernwilligen Kolleginnen störende Rabauken signalisieren eine zunehmende Ratlosigkeit im Umgang mit schwierig gewordenen Jungs. Seit notorische Querschläger manchenorts einen geregelten Unterricht verunmöglichen und im Ausland sogar junge Amokläufer in Schulen wüteten, werden mögliche Ursachen des schulischen Unbehagens neu diskutiert. Eine These lautet: Lehrerinnen können nicht adäquat mit Knaben umgehen. Aus der bisher von Männern besetzten Schule ist unmerklich eine vorwiegend weibliche Arbeitsstätte geworden, zumindest an der Basis. Lehrerinnen dominieren auf der Unter- wie der Mittelstufe, und die pädagogischen Hochschulen beklagen einen gravierenden Rückgang an Studenten. Ob und wie stark das Geschlecht der Lehrperson Verhalten und Leistungen der Schüler beeinflusst, darüber gibt es noch zu wenig repräsentatives Material. Bei den Ursachen, die zum Schulverleider führen, spielt das Geschlecht der Lehrperson aber vermutlich eine marginalere Rolle als angenommen. Schulphobien entstehen durch eine Kumulation ungünstiger Bedingungen. Auslöser sind vielmehr konkrete Faktoren wie ungewisse Berufsperspektiven, Fehlen männlicher Bezugspersonen, überforderte Mütter, Pubertätskrisen, Subito-Mentalität, maskuline Lesescheu, Alkohol und Herumhängen, kulturelle Handicaps, fehlende Übereinstimmung zwischen Schule und Eltern, und nicht zuletzt eine wenig umfassende Grundsatzdiskussion zur Bubenpädagogik. Rollendenken aufbrechen Bis vor kurzem stand fest: Buben sind von Natur aus schlau. Mädchen, festgelegt auf zukünftiges Mutter- und Hausfrauendasein, galten dagegen über Epochen als intellektuell und bildungsmässig minimal förderungswürdig. Die Koedukation widerlegte, gestützt auf wissenschaftliche Studien, endlich das Klischee weiblicher Minderbegabung. Vor lauter Mädchen-Emanzipation wurde jedoch übersehen, dass die Benachteiligung der Schülerinnen nur eine scheinbare Bevorzugung ihrer Kameraden bedeutete. Zur Zeit der schwarzen Pädagogik wurden Jungs von Männern gedrillt und ins gängige Männlichkeitsmuster geprügelt. Heute ist Kuschelpädagogik angesagt. Aggressives Subito-Verhalten wird dabei oft zu lange geduldet. Anstand bleibt für viele Knaben ein Fremdwort, und Unverschämtheiten haben in der Regel kaum Konsequenzen. Als Hilfe für unmotivierte Knaben wird die Rückkehr zu geschlechtergetrennten Klassen gefordert. Das kann für gewisse Themenbereiche eine Lösung sein. Buben und Mädchen haben aber nebst kognitiven Inhalten einen Verhaltenskodex an gegenseitigem Respekt zu lernen - am besten gleich gemeinsam. Die Schule hätte Jugendliche vor allem einmal zu fragen: Was kannst du? Wer bist du eigentlich? Statt leistungsschwächeren, lerngehemmten oder oberflächlichen Subito-Kids einzuhämmern: Schon wieder versagt! So verlieren die Gedemütigten ihre letzte Motivation. Das kognitive Potenzial der Hochintelligenten wird ohnehin erst punktuell ausgeschöpft. Das entmutigt ebenfalls. Die Schulzeit wird widerwillig abgehockt, und es wird negative Aufmerksamkeit gesucht: als Klassenclown, in Peer-Gruppen, mit gefährlichen Mutproben, Diebstählen, Gewalt. Lassen Lehrpersonen die Aufsässigen links liegen - Hauptsache, sie stören nicht -, machen sie sich an deren Versagen mitschuldig. Es gibt aber Situationen, in denen Lehrkräfte samt Kriseninterventionsteam überfordert sind; oft ist dann auch im Interesse des Knaben die Versetzung in eine andere Schule oder eine Heimeinweisung angebracht. Renitente Schüler können die Belastbarkeit der Unterrichtenden aufzehren, sofern ihnen nicht klare Rahmenbedingungen gesetzt werden. Buben können hyperaktiv und laut, widerspenstig, distanzlos bis frech, aggressiv, handkehrum witzig, anhänglich und hilfsbereit sein. Mehr als Mädchen lieben sie Kräftemessen, Wettbewerb und Rangordnung. Eigenschaften, die heute neben dem Einüben in Selbstverantwortung, soziale Kompetenz, Teamwork und individualisierten Unterricht oft zu negativ gewichtet werden. Lehrpersonen haben die schwere, undankbare Aufgabe, Erziehungsfehler des Elternhauses «auszubügeln», den frustrationsintoleranten Kids Grenzen zu setzen, sie gleichzeitig anzuspornen und eine Balance zwischen lästiger Pflicht und kreativen Freiräumen zu finden. Häufig wird auf Problemschüler falsch reagiert: abwartend oder gar nicht, mit laientherapeutischen Gesprächen, leeren Drohungen, Strafen. Zuletzt wird resigniert. Wer erst nach handfesten Pöbeleien seinen Tarif durchgibt, hat sein Ansehen eingebüsst und handelt sich zusätzliche Schwierigkeiten mit Klassenbossen ein. Schon mit wenig renitenten Jungs haben jene Lehrkräfte zunehmend Mühe, die sich als Kumpel und Kolleginnen ihrer Schüler verstehen. Jugendliche akzeptieren auf die Dauer keine infantilen Lehrpersonen. Sie wollen Erwachsene, die die Alphaposition und die Verantwortung in der Klasse übernehmen, natürliche Autorität ausstrahlen, ohne dabei repressiv zu sein. Partnerschaft mit Kindern und Jugendlichen bedeutet weder Chaos noch Willkür. Regeln, Verhaltensverträge und allfällige Sanktionen sind mit ihnen demokratisch auszuhandeln, und daran muss sich auch die Lehrperson halten. Lehrerinnen nicht benachteiligt Ob Buben eine Lehrkraft akzeptieren, hängt also keineswegs vom Geschlecht, sondern von deren persönlicher Ausstrahlung ab. Trotz allgemein schwächerer Konstitution handeln Lehrerinnen in kritischen Situationen (Schlägereien u. ä.) nicht selten mutiger und situationsgerechter als ihre Kollegen. Und Halbwüchsige schätzen Erwachsene, die in brenzligen Situationen eingreifen, nicht feige weggucken. Unzählige Mütter, Jugendriegeleiterinnen, Sozialpädagoginnen und Lehrerinnen können übrigens ausgezeichnet mit problematischen Halbwüchsigen umgehen, während manche Väter und Lehrer mit ihnen kaum zurechtkommen. Weil Lehrerinnen sich nicht mit Imponiergebärden Respekt verschaffen können, stossen sie bei einzelnen Vätern und Kollegen aber nach wie vor auf das Klischee, Frauen kämen bei älteren Buben nicht an. Dieses Vorurteil und die kulturbedingte patriarchale Einstellung der Eltern aus dem islamischen Kulturkreis können den Umgang mit einem Schüler sehr erschweren. Nicht ohne negative Folgen wirkt sich ausserdem die hohe Zahl der Väter aus, die dem familiären Alltag fernbleiben. Immer mehr männliche Jugendliche wachsen heute bis zur Lehre oder Uni mit überwiegend weiblichen Bezugspersonen (in Familie, Hort, Kindergarten, Schule) auf. Die mangelnde Präsenz der Väter ist - nach meiner Erfahrung mit schwierigen Knaben - eine Hauptursache der gegenwärtigen Bubenproblematik. Spätestens zu Beginn der Pubertät suchen Kids die Auseinandersetzung von Mann zu Mann. Fehlt ein hautnaher Begleiter, ersetzt eine Reihe Jugendlicher die vermisste Vaterfigur durch Sektengurus, Führer gewalttätiger politischer Gruppen oder Medienhelden. Heute pubertieren bereits Sechstklässler. Hormonbedingte Turbulenzen, Stimmungsumschwünge können gute Schulleistungen verhindern. Grössenphantasien wechseln mit Niedergeschlagenheit. Die körperlichen Veränderungen verunsichern. Statt sich mit Energie auf eine weiterführende Schule (Sekundarschule, Gymnasium) vorbereiten zu können, leiden die Schüler in dieser Entwicklungsphase häufig unter Konzentrationsstörungen. Die Unruhe der jungen Männer entspringt auch der Suche nach ihrer männlichen Identität - und der Sehnsucht nach Widerstand. Sie wollen Grenzen sprengen und Aufmerksamkeit erregen. Auf Provokationen erwarten sie eine Antwort. Wer im Sinne einer unerwarteten Intervention oder mit Humor reagiert, verblüfft selbst hartgesottene Radaubrüder. Lehrercharisma gefragt Im Grunde ist die Institution Schule ein Kuriosum: Ein bis zwei erwachsene Personen und fast zwei Dutzend Heranwachsende mit heterogenen Begabungen und Erwartungen, ebensolchen physischen, psychischen und kognitiven Voraussetzungen bilden eine Zwangsgemeinschaft auf Zeit. Schule ist eine Form von Gruppenarrest. Und alle jungen Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten und ungleichem IQ sollten in zwei, drei Jahren dasselbe Lernziel erreichen. Eine Quadratur des Kreises. Keine wissenschaftlich noch so fundierte Ausbildung bietet dafür ein Patentrezept. Um schulmüde Kids überhaupt in dieses Unterfangen einzubinden, braucht es Charisma. Diese Mischung aus Begeisterungsfähigkeit, Phantasie, Selbstsicherheit, klaren Richtlinien und methodischem Rüstzeug ist geschlechtsunabhängig. Mit Lehrenden, welche authentisch sind, eigene Schwächen nicht ausblenden, Schülerfehler konstruktiv kritisieren und die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen nicht vernachlässigen (positiver Pygmalion-Effekt), kann Schule zum Ort neugieriger Erwartung, des Forschens, der selbständigen Zusammenarbeit werden. Ideal für alle Beteiligten wäre ein gut eingespieltes Team von Mann und Frau in jeder Klasse, auf sämtlichen Stufen.


Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2002/10/01/se/page-article8EIVL.html