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Frau Vrene

Am Türlersee lebten einst ein Mann und eine Frau mit ihrem Kinde. Sie waren aus einem fernen Lande hergezogen, und weil sie fleissig waren, konnten sie bald einige Aecker und Wiesen ihr eigen nennen. Der Mann betrieb auch noch Fischerei. Seine Frau, Vrene genannt, verstand sich besonders gut auf die Pflege von Blumen und Kräutern, und ihr Garten war ihr ganzer Stolz. Sie war eine schweigsame Frau, die selten lachte. Auch gegen die Nachbarn, die ihren schönen Garten bewunderten, zeigte sie sich sehr verschlossen. Die Aecker und Obstbäume von Frau Vrene und ihrem Mann trugen reiche Frucht, und ihre Wiesen grünten auf das schönste.

Doch gab es unter den Nachbarn auch solche, die ihnen den Segen in Feld und Garten missgönnten; der Umstand, dass sie Fremde waren, mag diesen Neid ebenso geschürt haben wie Frau Vrenes schroffe Wesensart.

Das Kind jedoch zeigte sich, wie auch sein Vater, gegen jedermann freundlich und verschenkte oft Blumen und Früchte. Es kannte auch die heilende Wirkung der Kräuter in Mutters Garten und half so manchem Kranken. So war denn dieses heitere Kind die Freude seiner Eltern. Doch bald fand dieses Glück ein Ende. Der Mann geriet beim Fischfang in ein Unwetter, sein Boot kenterte, und er ertrank in den dunklen Fluten des Türlersees. Das Kind weinte sich fast die Augen aus, aber Frau Vrene hatte keine Tränen für ihren Schmerz. Sie wurde noch verschlossener und gönnte niemandem mehr ein gutes Wort. Sogar gegen ihr Kind wurde sie hart und streng und duldete nicht, dass es auch nur eine Blume verschenkte. Die Witwe arbeitete noch mehr als zuvor und konnte ihren Besitz erhalten. Doch ihre Habgier wuchs; sie wollte ihr Gut vermehren und geriet bald mit den Nachbarn, den Bauern von Herferswil, wegen der Grenze ihrer Felder in Streit. Obwohl sich Frau Vrene auch vor dem Richter zu verteidigen wusste, gelang es den Bauern, ihr ein Grundstück nach dem andern wegzunehmen. Zu guter Letzt blieb ihr nur noch der Hausgarten. Voller Ingrimm sprach sie: "Und so kann ich doch gartnen!" - und sie verwandte allen Fleiss auf dessen Pflege. Aber es war, als sei der Segen von ihr gewichen; so sehr sie sich mühte, es grünte und blühte in ihrem Garten nicht mehr wie einst. Frau Vrenes Wesen wurde immer finsterer; auch ihr Kind ward immer stiller und schliesslich lag es krank in seinem Bettchen. Die verzweifelte Mutter konnte ihm nicht helfen; es starb bald darauf. Nun war Frau Vrene ganz allein auf der Welt. Mit ihrem Leid wuchs auch der Zorn auf die Nachbarn. Sie konnte es kaum mehr mitansehen, wie auf deren Feldern alles gedieh, während man ihr doch alles geraubt hatte. Als es dann den Herferswilern gar gelang, Frau Vrene auch noch den Garten wegzunehmen, war das Mass voll. Die wütende Frau schwor, sich zu rächen. Sie setzte sich in den Kopf, die Felder der Herferswiler zu überschwemmen. Dazu wollte sie das Wasser des Türlersees durch einen Graben ableiten.

Als sie so darüber nachdachte, wie dieses Zerstörungswerk zu vollbringen sei, klopfte ein fahrender Schüler bei ihr an und bat um Herberge. Man sagte den fahrenden Schülern nach, sie besässen besondere Kräfte; es hiess auch, sie machten manchmal mit Hexen und Zauberern gemeinsame Sache oder seien gar mit dem Teufel im Bunde. So kam denn der Frau Vrene ein solcher Gast eben recht, und entgegen ihrer Gewohnheit bewirtete sie ihn auf das beste und weihte ihn in ihren Plan ein. Der fahrende Schüler bot ihr seine Hilfe an, aber sie musste ihm versprechen, bis zur Vollendung des Werkes kein einziges Wort zu reden.

Nachts machten sich denn die beiden auf und begannen, den Graben zum See auszuheben. Es war eine harte Arbeit, galt es doch, den Jungalbis zu durchgraben. Frau Vrene und der fahrende Schüler jedoch schienen übermenschliche Kräfte zu haben, denn es dauerte nicht allzu lange, so fehlte nur noch ein Spatenstich, um dem Seewasser den Weg auf die Felder der Bauern zu öffnen. Da konnte Frau Vrene ihre Freude über die bald gelungene Rache nicht mehr zurückhalten, und sie rief plötzlich: "So geschehe es Gott zu Lieb oder zu Leid!"

Kaum waren die frevlerischen Worte verklungen, da erhob sich ein Sturmwind, der Frau Vrene und ihren unheimlichen Helfer davontrug, weit weg bis zu den Bergen.

Frau Vrene wurde auf den Gletscher des Glärnisch getragen, und da steht sie noch heute, zur Eissäule erstarrt, mitten in Firn und Eis. Seither heisst dieser Flecken im ewigen Schnee "Vrenelis Gärtli". Die Bucht am Türlersee, wo die Rachedurstige das Seewasser abgraben wollte, trägt noch heute den Namen "Hexengraben".


Quelle: Sagen aus dem Kanton Zürich, Ursina Lüthi (Text), Emil Medardus Hagner (Illustrationen)
Zürcher Kantonalbank 1987. Hier publiziert mit freundlicher Genehmigung der ZKB (Juni 2005).