Ernst Schlatter hat zum Thema «Sterben die Hausärzte aus?» ein Gespräch mit Dr. Martin
Kehrer aus Hedingen geführt. Stellen Sie sich vor, Sie wollen zum Hausarzt - und niemand macht die Türe
auf. An der Haustür ein Schild: «Keinen Nachfolger gefunden». (Dies ist in einigen Gebieten der
Schweiz bereits Realität geworden!)
Von Ernst Schlatter (eschla)
eschla: In einer der letzten Arena-Sendungen von SF DRS und im Tagesanzeiger vom Donnerstag, 19. Januar war
einiges zum Thema "Sterben die Hausärzte aus?" zu hören und zu lesen. Was für Eindrücke
hat dies bei Ihnen ausgelöst?
Dr. Martin Kehrer: Die direkt Betroffenen in der TV-Sendung (der Arzt aus Basel und derjenige aus Grindelwald,
die Assistenzärztin und Frau Klara Obermüller) haben sich klar und mit guten Beispielen aus der Praxis
ausgedrückt. Die Vertreterin der Patientenstelle war enttäuschend. Sie hat die Problematik nicht erfasst.
Nationalrätin Egersegy argumentierte politisch geschickt, aber allzu allgemein und besänftigend.
Im Forum für Hausarztmedizin, Schweizerische Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM) und im Kollegium
für Hausarztmedizin (KHM) wird zur Unterzeichnung einer Petition aufgefordert, die am 1. April im Bundeshaus
übergeben werden soll. Gehören Sie auch zu den Unterzeichnern und warum? Selbstverständlich stehe ich hinter den in der Petition gestellten Forderungen und habe sie auch unterschrieben. Die Hausärzte in der Schweiz weisen schon seit langem und bisher leider weitgehend vergeblich auf das Problem hin. Die neueste Entwicklung (Senkung der Labortaxpunkte) brachte das Fass zum Überlaufen. Ich möchte aber vor allem über das prinzipielle Problem des drohenden Hausärztemangels sprechen. Das Grundproblem beginnt in der Ausbildung. Die Hausärzte machen schon lange darauf aufmerksam, aber politisch läuft nichts. Im Gegenteil: Es kommen Rückenschüsse, welche das Leben der Hausärzte noch schwerer machen und welche für einen angehenden Mediziner absolut keine Motivation darstellen, Hausarzt zu werden. |
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Dr. Kehrer, Hedingen (Bild eschla) |
An der Uniklinik in Bern wird seit einigen Jahren die Hausarztmedizin besser berücksichtigt. Nachmittagsweise
gehen Medizinstudenten in Allgemeinpraxen, um zu sehen, was da anfällt. Etwas Ähnliches gibt es auch
in Zürich. Dr. Urs Glenck, Ottenbach und andere Ärzte des Säuliamtes engagieren sich dabei stark:
Sogenannte Lehrärzte betreuen während einem Semester an einem Nachmittag vier Studenten in der Praxis
gegen eine kleine Entschädigung. Doch die medizinische Fakultät zeigt sich nicht sehr kooperativ, findet
es nicht nötig, einen Lehrstuhl für Hausarztmedizin zu errichten, wie dies neulich in Basel geschehen
ist. In Zürich ist dies bisher «universitätsunwürdig»….!
Ein weiterer Punkt ist die Weiterbildung. Ein Assistenzarzt, der sich für 2 bis 3 Jahre am gleichen Spital
bewirbt, bedeutet für den Spital eine Kosteneinsparung, da die Einarbeitungszeit aufwändig ist und von
einem Oberarzt überwacht werden muss. Im 2. und 3. Jahr kann der Assistent dann schon selbständiger arbeiten.
Er gewöhnt sich an regelmässige Arbeitszeiten und Schichtbetrieb (vom Staat gesetzlich vorgeschrieben)
und wird sich schwerlich mit der Situation des Hausarztes anfreunden. Ein Grund mehr, der zum Hausärztemangel
beiträgt.
Ebenfalls schwer ins Gewicht fällt die Feminisierung in der Medizin. Heute sind mehr als 50 Prozent der
Medizinstudenten Frauen. Nur wenige Frauen haben die Möglichkeit (neben allfälliger Kindererziehung und
Hausarbeit) als selbständige Hausärztinnen zu arbeiten. Teilzeitarbeit, Schwangerschaftsurlaub ist unmöglich.
In einer Gemeinschaftspraxis fehlt die Kontinuität oder muss durch unbezahlte Übergabegespräche
kompensiert werden.
Die finanzielle Situation beim Aufbau einer Arztpraxis bildet ebenfalls einen Hinderungsgrund. (Für den Start
braucht es mindestens eine Investition von 500 000 Franken und die Banken geben heute nur noch die unattraktiven
Risikokredite).
Als Allgemeinpraktiker gilt es, in allen Fachgebieten den Überblick zu behalten. Dies bedeutet regelmässige
Fortbildung. Viele der Allgemeinpraktiker belegen pro Jahr wohl über 100 Stunden Bildungskurse, dazu kommt
das tägliche Studium der Fachliteratur (für mich ungefähr eine Stunde pro Tag). Schwierig sind für
uns Hausärzte auch unausgegorene Artikel in der Presse, welche vor Erscheinen in der Fachpresse Staub aufwirbeln
oder TV-Sendung à la «Dr. Stutz».
Leider hat sich auch das Umfeld für den Hausarzt in den letzten 20 Jahren stark im negativen Sinn verändert:
Patienten sind weniger geduldig, verpassen oder verschieben kurzfristig Termine (Coiffeurtermin ist wichtiger!),
sind kritischer wegen dem in den Medien vermittelten Halbwissen und leider auch im Kontakt unpersönlicher.
Von amtlichen Stellen und von den Krankenkassen sind in den letzten Jahren immer mehr Schikanen losgetreten
worden, welche die Arbeit des Hausarztes vor allem im administrativen Bereich erschweren: Übertriebene Qualitätskontrollen
beim Röntgen, im Labor und in der Apotheke oder auch der Umstand, dass die Fortbildung (50 Stunden pro Jahr)
mit Testat nachgewiesen werden muss, bei Androhung der Aberkennung des Facharzttitels!
Zwar verdient ein Hausarzt immer noch gut - etwa soviel wie ein Mittelschullehrer oder Pfarrer - aber seit Jahren
gibt es - bei steigenden Unkosten - keinen Teuerungsausgleich, der Gewinn nimmt also ab.
Nach dem ich dies alles gehört habe, verstehe ich nun gut, dass Sie am kommenden 1. April an die Kundgebung
nach Bern gehen möchten. Ich spüre aber auch, dass Sie - trotz der geäusserten erschwerenden Umstände
- immer noch mit Freude Ihre Arbeit als Hausarzt machen und wünsche Ihnen, dass Sie dies - zum Wohle Ihrer
Patienten - noch weiterhin tun werden. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Interview: Ernst Schlatter
Inhalt der Petition der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und des Kollegiums für Hausarztmedizin
Originaltext der Petition:
http://www.swiss-paediatrics.org/society/petition-ge.pdf